„Spiritualität“ ist in den letzten Jahrzehnten zu einem Schlüsselwort religiöser Gegenwartskultur geworden.
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Grundsätze
Christliche Spiritualität
1. „Spiritualität“ ist in den letzten Jahrzehnten zu einem Schlüsselwort religiöser Gegenwartskultur geworden. Hinter dem diffus verwendeten Begriff verbergen sich ganz unterschiedliche Strömungen und Tendenzen:
Zunehmend wird heute eine „neue“ oder „freie“ Spiritualität proklamiert. Es entwickelt sich ein religiöses Auswahl- und Probierverhalten, dem gewachsene religiöse Traditionen letztlich gleichgültig sind. Dahinter stehen häufig antikirchliche beziehungsweise antichristliche Motive.
Als Leitbegriff im Interesse einer anzustrebenden Einheit der verschiedenen Religionen zielt „Spiritualität“ auf deren angeblich gemeinsamen inneren Kern: Spiritualität sei dann das, was übrig bleibt, wenn man die Religionen ihrer Lehren und Formen entkleidet.
In christlichem Kontext ist „Spiritualität“ ein Leitbegriff für die Sehnsucht geworden, angesichts des Bedeutungsverlusts der Kirchen und eines Leidens an der Entleerung und Erstarrung ihrer Lebensformen zu einer Erneuerung und Vertiefung des eigenen Glaubens zu finden. Es geht um eine Lebensorientierung mit Tiefenimprägnierung.
2. Entgegen mancher Versuche, „Spiritualität“ als bloßes Modewort zu betrachten, das noch nicht einmal christlichen Ursprungs sei, ist festzuhalten: „Spiritualität“ ist ein genuin christlicher, auf die Kirchenväter zurückgehender Begriff, der biblisch im Zeugnis von der Wirkkraft des Heiligen Geistes verankert ist. Dass er heute zunehmend neben den Begriff „Frömmigkeit“ tritt, ist Problemanzeige und Chance zugleich. Der christliche Glaube ist damit herausgefordert, den Begriff zu schärfen, indem er sich auf seine ureigene spirituelle Dimension neu besinnt und ihr in verändertem gesellschaftlichem Kontext überzeugend Kontur und Profil gibt.
22.02.2016
ELKB
3. Hinter der spirituellen Suche vieler Menschen heute verbirgt sich die Sehnsucht nach der Erfahrung einer jenseitigen Wirklichkeit und ihrer heilsamen Wirksamkeit im eigenen Leben.
Betont wird damit zunächst die Erfahrungsdimension des Religiösen. Menschen fragen nach einem Weg, der in die Wahrheit
führt, wollen diese selbst erfahren, suchen sozusagen „Glauben aus erster Hand“. Christlicher Glaube nimmt diese Sehnsucht
ernst. Er weiß, dass er ohne Erfahrung leer bliebe und nicht lebbar wäre: Experientia facit theologum (M. Luther) – „Erfahrung macht den Theologen“.
4. Entgegen Tendenzen, „Spiritualität“ in „Lebensenergien“, besonderen Bewusstseinsphänomenen oder in einem „transpersonalen“ Raum jenseits der konkreten Religionen verankern zu wollen, ist und bleibt christliche Spiritualität verwurzelt im Geheimnis des dreieinigen Gottes: des Schöpfers, der uns als sein verantwortliches Gegenüber geschaffen hat, des Sohnes Jesus Christus, in dem Gottes Liebe menschliche Gestalt annimmt, und des Heiligen Geistes, der in uns wohnen will.
5. Christliche Spiritualität speist sich aus der Zuwendung Gottes in Wort und Sakrament: „Dein Wort bewegt des Herzens
Grund/dein Wort macht Leib und Seel’ gesund/dein Wort ist´s, das mein Herz erfreut/dein Wort gibt Trost und Seligkeit“( J. Olearius, EG 197). Christliche Spiritualität ist der Versuch, auf das Geheimnis des dreieinigen Gottes hin und aus dessen Erfahrung heraus zu leben; sie ist gelebtes Bekenntnis, gestalteter Glaube.
6. Dabei wird heute die Bedeutung durchaus unterschiedlicher Elemente wie Stille, Schweigen, Achtsamkeit, Askese einerseits, aber auch Freude, Ekstase, Sinnlichkeit andererseits betont. Die christliche Kirche nimmt diese Entwicklung als Bereicherung ihrer Lebensäußerungen dankbar auf. So könnten auch weithin vergessene und verdrängte spirituelle Aspekte in Musik, Kunst und Poesie wieder neu zur Geltung gebracht werden.
7. Christliche Spiritualität ist geprägt von der Freude über die Menschwerdung Gottes (Lk 2,10; 24,52) und der ihr entsprechenden Freiheit (2. Kor 3,17), von Konzentration und Weite: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi“(1. Kor 3,23). In dieser Mitte verwurzelt, kann christliche Spiritualität Ausdrucksformen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten aufnehmen und neue Formen entwickeln. Problematisch ist, wenn bestimmte spirituelle Formen absolut gesetzt werden. Alle Ausdrucksformen von Spiritualität müssen sich an der biblisch-prophetischen Frömmigkeitskritik messen lassen. Deren Kriterium ist die Vereinbarkeit mit dem christlichen Verständnis von Gott und dem Menschen.
8. Mit dem Begriff „Spiritualität“ verbindet sich heute häufig das Bedürfnis nach Selbsterfahrung und Selbstfindung. Christliche Spiritualität nimmt dieses Bedürfnis ernst und hat im Blick, dass Selbsterfahrung und Gottesbeziehung, Gemeinschaft und Nächstenliebe untrennbar miteinander verbunden sind.
9. Wenn der Begriff „Spiritualität“ heute besonders den Aspekt der Entwicklung und Reifung des Individuums betont, so bringt christliche Spiritualität auf ihre Weise zur Geltung, dass das „Leben im Geist“ ein Prozess ist, ein Weg im Glauben: „Das christliche Leben ist nicht Frommsein, sondern ein Frommwerden ..., nicht Sein, sondern Werden, nicht Ruhe, sondern eine Übung“ (M. Luther). Luthers Begriff der Frömmigkeit weist darauf hin, dass christliche Spiritualität sich nicht auf sich selbst gründet, sondern sich auf Gottes Zuwendung und Gestaltung unseres Lebens verlässt.
10. „Einübung im Christentum“ (S. Kierkegaard) als Anleitung zu christlicher Spiritualität unter den Bedingungen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels ist heute eine vordringliche kirchliche Aufgabe. Es geht darum, die Schätze der christlich geprägten Frömmigkeit neu zu entdecken und neu zu beleben, leibhafte und alltagsbezogene Formen zu entwickeln und anzubieten und suchende Menschen auf den christlichen spirituellen Weg einzuladen.
Alle diese Bemühungen aber werden getragen von der Bitte um den Heiligen Geist, der allein alle „Spiritualität“ mit Leben erfüllen kann.
Amberg, 25. November 2004