Berichte und Eindrücke zum Thema "Glaube in verletzlicher Zeit" - eine Zusammenstellung von Axel Mölkner-Kappl.von Mitarbeitenden.
Frühjahrstagung 2021
Schwerpunkt: Glaube in verletzlicher Zeit
Ein Jahr Pandemie: ein Jahr Lockdown und Social Distancing, Kontaktbeschränkungen und Homeschooling. Menschen werden dünnhäutiger und gereizter. Was macht das mit unseren Beziehungen und mit unserem Glauben? Was bedeutet das für jeden einzelnen Christen/jede einzelne Christin und für die Kirche? Einen ganzen Tag hatte sich die Synode Zeit genommen, um bei Impulsen und Vorträgen, in Arbeitsgruppen und im eigenen Nachdenken diesem Thema nahezukommen.
Ihre „Traumabrille“ lieh Martina Bock von der Stiftung „Wings of Hope“ den Synodalen. Sie frage sich, warum bei der Suche nach Lösungen nicht auf mehr Fachexpertise - wie die der Traumaforschung - zurückgegriffen worden sei. Zu Beginn des Lockdowns habe sie die Befürchtung gehabt, dass man viele Menschen ins Bodenlose fallen ließe, erzählte die Traumapädagogin. Bis heute bliebe das Unbehagen, dass so viel nicht berücksichtigt worden sei.
„Zuhausebleiben wurde als Motto ausgegeben. Was aber, wenn mein Zuhause gefährlich ist? Hilfe zu suchen, war für viele nur eingeschränkt möglich - wie rufe ich beim Frauennotruf an, wenn der Täter immer in der Wohnung ist? Wer sieht die Veränderungen bei Kindern, wenn Schule nur noch online ist?"
Martina Bock
In den Zeiten der Pandemie würden alle mit ihrer Verletzlichkeit konfrontiert. Aber die Ressourcen - sowohl finanziell als auch psychisch - seien sehr unterschiedlich. Die Pandemie könne zu Traumata führen, aber auch alte Traumata aktivieren.
Martina Bock
Menschen bräuchten Sicherheit, Beziehung und Bindung, Selbstwirksamkeit und die Hoffnung, dass es irgendwann besser werde. Ganz viel davon sei durch die Pandemie weggebrochen. Martina Bock erklärte, wie Menschen mit Traumata und - beispielsweise durch häusliche Gewalt - bedrohte Menschen darunter besonders litten. Gerade der Zwang Abstand zu halten, habe bedenkliche Folgen: Bindung und Beziehung, unsere größten Ressourcen, schienen auf einmal gefährlich.
Was bedeutet die Pandemie für Jugendarbeit? Lisa, Noah und Hanna aus Freising erzählen, wie sie die Zeit erleben. Film: Axel Mölkner-Kappl
Viele schafften es, ihre Kontakte online oder am Telefon zu pflegen. „Was aber, wenn ich kein stabiles Netzwerk habe? Wenn ich auf einmal allein bin, tagelang - ohne dass es jemanden gibt, der mich in meiner Angst auffängt?"
Bei „Wings of hope“ beschäftige sie sich auch mit kollektiven Traumata. Eine Folge davon sei die Spaltung der Gesellschaft, beispielsweise in Opfer und Täter. „Vieles von dem, was ich jetzt in unserer Gesellschaft beobachte, erinnert mich daran.“ In der Gesellschaft werde in Gruppen eingeteilt, die Toleranz füreinander nehme ab. In Kirche und Gesellschaft brauche es Dialogräume, in denen Menschen ihre Erfahrungen und ihre Geschichte erzählen könnten, ohne die Angst, etwas Falsches zu sagen.
Wie erlebt Annekathrin Preidel, Präsidentin der Landessynode, die Pandemie?
Am Puls der Verletzlichkeit
Gerade in der Palliativmedizin habe Social Distancing ein Drama hervorgerufen, berichtete Dr. Marcus Schlemmer vom Krankenhaus der Barmherzigen Brüder München. Ärzt*innen und Pfleger*innen seien am Puls der Verletzlichkeit. Schlemmer erzählte von Menschen, die er in Quarantäne nur telefonisch begleiten konnte, während der Partner beziehungsweise die Partnerin auf der Intensivstation im Sterben lag. Weder vor noch nach dem Tod sei eine Begegnung möglich gewesen. Palliativmediziner beschäftigten sich mit dem Schmerz in seiner körperlichen, sozialen, emotionalen und spirituellen Dimension. Gerade die persönlichen Begegnungen auch mit den Angehörigen seien hier notwendig. „Wenn uns Menschen wichtig sind, dann sind uns auch Beziehungen wichtig." In der Pandemie werde diese Begegnung empfindlich erschwert.
Pfarrerin Cornelia Egg-Möwes ist in der Seelsorge in diesen Zeiten stärker gefragt als zuvor. Film: Axel Mölkner-Kappl
"Das Wichtigste sind die Begegnungen"
Dennoch versuche er, auch etwas Positives in der Pandemie zu sehen, sagte Schlemmer. Sie habe beispielsweise dazu geführt, „dass wir uns mehr mit unserer Endlichkeit beschäftigt haben“. Auch in diesen schwierigen Zeiten müsse eine soziale Kultur gepflegt werden können. Bei den Kontaktbeschränkungen zeige sich, welche Menschen plötzlich besonders wichtig würden. Vielleicht sei die Pandemie eine Zeit zu unterscheiden, was am Ende wirklich wichtig sei. Er lerne von Sterbenden, „dass das Wichtigste in unserem Leben die Begegnung mit den Menschen ist, die wir lieben“.
"Theologie für Dünnhäutige"
Anhand eines Bildes des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald entwickelte Dr. Petra Bahr, Regionalbischöfin für den Sprengel Hannover der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers und Mitglied des Deutschen Ethikrates, eine „Theologie für Dünnhäutige“. Der Maler habe Kranke genau studiert und die Haut des Christus am Kreuz dünnhäutig gestaltet, aufgerissen mit Pocken und Narben. Dieses Leid, so Bahr, sei nicht abstrakt. Das Bild zeige einen schwer gezeichneten konkreten Menschen. Grünewald antworte mit der Sprache seiner Zeit auf die Frage nach der Stimme Gottes, die uns seit einem Jahr bewege: „Die Stimme ist schon da. Der leidende Christus ist der Kranke in meiner Zeit, der im Spital liegt und vor Schmerzen schreit."
Wie erlebt Walter Schnell, Vizepräsident der Landessynode, die Pandemie?
Trotzdem vom Leben reden
„Dünnhäutig“ sei heute neben Müdigkeit und Erschöpfung eine der meist genannten Antworten auf die Frage nach dem Gemütszustand. Die Menschen seien leichter verletzbar, weniger vergebungsbereit, reizbar bis zur Aggressivität. Das sei auch in den Gemeinden zu spüren: in Zerwürfnissen und Konflikte, die sich an Kleinigkeiten entzündeten. In all dieser Dünnhäutigkeit seien Christinnen und Christen, nicht nur Hauptamtliche, aufgerufen, vom Leben zu reden. Im Horizont von Ostern Rechenschaft zu geben vom Leben in Fülle - dies sei einfach gesagt und schwer zu leben. „Wir sind gefragt, wie im Horizont Gottes unser Leben aussehen kann.“ Sie wünsche sich eine Kirche, die Anwältin sei für diejenigen, die von anderen nicht gesehen würden, ganz besonders auch für Kinder und Jugendliche.
Wir brauchen Klagemauern!
Mut zur Klage forderte Prof. Dr. Günter Thomas von der Ruhr-Universität Bochum im zweiten theologischen Impuls. „Wir brauchen den spirituellen Mut zur Wut - zu einer Klage, die Gott als Adresse hat. Ja, wir brauchen Klagemauern. Wir brauchen diese tausend Ritzen, in die Menschen ihre Seufzer und ihren Schmerz so anonym wie persönlich stecken können. Tausend Mauerritzen, in denen auch die Resignation eine schwache Geste der Hoffnung werden kann, ein Ort der Gotteserfahrung, der tröstenden Gegenwart des Geistes Gottes.“
Gott als Feind manchen Lebens
Gott umschließe nicht alles Lebende mit Zärtlichkeit, im Gegenteil, er sei nicht einfach Freund des Lebens. "Gott ist ein Feind manchen biologischen Lebens zugunsten heilvoll gelingenden biologischen Lebens - von Menschen und anderen Geschöpfen." Christen seien Partner Gottes in einem Prozess "schöpferischer und erschöpfender" Chaosbewältigung. Dies sei nicht ohne Risiko. Darum sollten Christen Chaosbegrenzer spirituell wahrnehmen und würdigen. Dies seien nicht nur die Weltretter, sondern alle diejenigen, die "in großer Regelmäßigkeit und zumeist sehr still das Chaos begrenzen und zurückdrängen. Die Menschen spüren beides, subtile spirituelle Verachtung und echte spirituelle Würdigung."
Durch die Kontaktbeschränkungen sei die Kirche an einem ihrer wundesten Punkte getroffen, so Thomas. Die Herausforderung sei die leibliche Präsenz. Es brauche digitale Plattformen, auf denen Modelle von Präsenz geplant und beobachtet werden könnten; ersetzen könnten sie die Präsenzformen für Feiern, Trauern und Dasein jedoch nicht.
Nach einer Pause für eigenes Nachdenken tauschten sich die Synodalen intensiv mit der Referentin und dem Referenten über das Thema aus. Planungsreferent Thomas Prieto Peral und Synodale Kathrin Neeb moderierten den Thementag.
24.03.2021
Anne Lüters